Das erste Jahrhundert des Films: Die 1900er-Jahre

Le voyage dans la lune (Georges Méliès, F 1902)

Man nennt sie gern die «Kinderjahre» der Kinematographie, die anderthalb Jahrzehnte nach der ersten Filmprojektion im März 1895. Damit ist gemeint: Der Film hatte noch viel zu lernen. Und schliesst auch den «Jööö-Effekt» ein, den erste ungelenke Gehversuche auslösen. Es spricht daraus die «Erwachsenen»-Perspektive, die zu wissen glaubt, wo das hinführt.

Auf die frühen Filme bezogen, ist diese Betrachtungsweise so zutreffend wie einseitig. Natürlich haben sich die Filmtechnik und ihr Einsatz zu künstlerischer Gestaltung erst nach und nach entwickelt. Die rückblickende, teleologische Optik bedarf aber der Ergänzung in der Gegenrichtung. Es ist durchaus spannend, gewissermassen ergebnisoffen zuzuschauen, wie sich das «Kind» Film in wenigen Jahren ungeahnte Fähigkeiten zulegte. Und man sollte dabei nicht jene vielversprechenden Anlagen übersehen, die später verkümmerten.

Die französische Filmgeschichtsschreibung geht gerne vereinfachend von den «Polen» Lumière und Méliès aus. Da ist einerseits der naturalistische Ansatz, der der bewegten Fotografie aus dem Hause Lumière inhärent war, ihre Fähigkeit, die Realität – genauer gesagt: die Oberfläche der Realität – präzise abzubilden. Und andrerseits die Fantasiemaschine, als die der Zauberkünstler Méliès diese neue Technologie verstand und zu der er sie – mit Mitteln des Theaters und der filmischen Tricktechnik – erfinderisch entfaltete, indem er seine Figuren durch das Unmögliche reisen, in scheinbar schwerelosen «fééries» tanzen und sich auflösen liess.

Nach den ersten – wie wir heute sagen würden: dokumentarischen – «vues» der Lumière-Kameraleute ging die ästhetische Entwicklung des Films eher in Richtung einer nicht-naturalistischen Künstlichkeit. Die Live-Musikbegleitung der tonlosen Filme fügte dem Bild eine weitere ästhetische Ebene hinzu. Ebenso die Kolorierung der Filme – zuerst freihändig, dann mit Hilfe von Schablonen oder durch Farbbäder –, die jenseits von Realitätsimitation als gestaltete Bewegtbilder zu beeindrucken suchten.

Phono-Cinema-Théâtre (Clément Maurice, F 1900)

Auch das Spiel der Darstellerinnen und Darsteller, das ohne die Sprache auskommen musste, hatte kaum die Abbildung alltäglichen Verhaltens zum Ziel, sondern suchte Abstraktion und Überhöhung. Aus dem wilden pantomimischen Gestikulieren der Anfänge wurde rasch ein Erzählen in beherrschtem Gestus und expressiv-kontrollierter Mimik.

Nach und nach drehte man immer längere Filme. Aus der knappen Minute der Lumière-Filme wurden ganze 300-Meter-Rollen (von bis zu 15 Minuten Projektionszeit), später dann «Two-Reelers». Der ästhetische Reiz eines Tableaus, die Aneinanderreihung spektakulärer Attraktionen genügten dafür nicht mehr, gesucht wurden weiter tragende Spannungsbögen. Die Narration, das Story-Telling prägte immer stärker das Kino. Und aus dem technisch-entdeckungsfreudigen Experimentieren der Pioniere wurde immer mehr ein wachsender Wirtschaftszweig. Mit Gaumont und Pathé traten in Frankreich die ersten Grossunternehmer auf den Plan, die das Geschäft von der Produktion über den Verleih bis zur Vorführung kontrollierten.

Wurden Filme zuerst als sensationelle technische Neuheit, als Jahrmarkt-Attraktion oder im Rahmen von Variétéprogrammen aufgeführt, entstanden von der Mitte des ersten Jahrzehnts an in leerstehenden Verkaufsräumen die ersten festen Vorführbetriebe für Kurzfilmprogramme, die «Ladenkinos», in den USA die «storefront theaters», nach ihrem Eintrittspreis auch «Nickelodeons» genannt. Daraus sollten sich nach und nach die heutigen Kinostrukturen entwickeln.

Wieso, wird man fragen, haben Titel aus den von Aufbruchsenthusiasmus und Entdeckungsfreude sprühenden frühen Jahren im Programm des Stummfilmfestivals (und damit der Filmgeschichtsreihe des Filmpodiums) eher Seltenheitswert? Sicher nicht, weil sie nicht zeigens- und sehenswert wären. Vielmehr, weil es schwierig ist, sie adäquat zu präsentieren. Diese für eine andere Aufführungspraxis geschaffenen Filme finden im heutigen Kinobetrieb kaum günstige Rezeptionsbedingungen Sie werden zu Beiprogrammen degradiert oder zu rund 90-minütigen Programmen angehäuft, was – bei allem kuratorischem Aufwand – meist dazu führt, dass der einzelne Filmeindruck rasch durch den nächsten verdrängt wird.

Es bedarf einer besonderen Alchemie von Kenntnissen und Einfühlungsvermögen, die frühen Filme historisch korrekt und für ein heutiges Publikum zugänglich zu präsentieren. Zum Glück konnte das Filmpodium einige dieser raren Gelegenheiten mit sachkundig ausgewählten und live kommentierten Programmen  ergreifen. So mit dem Georges-Méliès-Abend, den dessen Urenkelin Marie-Hélène Lehérissey-Méliès zusammengestellt hatte und anhand der Originaltexte kommentierte. Oder mit dem von der Cinémathèque française rekonstruierten «Phono Cinéma Théâtre»-Programm der Weltausstellung 1900. In einem solchen Rahmen entfalten diese «Inkunabeln» der Filmgeschichte ihre noch immer starke Wirkung.

Martin Girod

  • A Corner in Wheat (D. W. Griffith, USA 1909)
  • The Great Train Robbery (USA 1903)
  • Le voyage dans la lune (Georges Méliès, F 1902)
  • Phono Cinéma Théâtre (F 1900)
  • The Airship Destroyer (Walter R. Booth, GB 1909)

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