Editorial: Warum in die Ferne schweifen?

Jean-Louis Tringtignant

Das November/Dezember-Programm beginnt mit der sechsten Ausgabe des biennalen Arab Film Festival Zurich, einer Koproduktion des Filmpodiums mit dem Verein IAFFZ. Dessen Mitglieder sorgen in unzähligen Stunden Freiwilligeneinsatz dafür, dass elf Tage lang bestes Kino aus dem arabischen Kulturraum hier zu sehen ist, in vielen Fällen vorgestellt von den Cineast:innen, die diese Werke geschaffen haben. In manchen ihrer Filme geht es um Heimat und Emigration, Exil und Heimweh. Die Entscheidung, das eigene Land zu verlassen und in der Ferne sein – unsicheres – Glück zu suchen, wird nie leichtfertig getroffen.

Nach dem Festival beginnt mit «Fremde Heimat» eine Filmreihe, die unser Land als Drehort und/oder Schauplatz zeigt. Während ausländische Produktionen gerne die Postkarten-Schweiz als Kulisse verwenden, werfen einheimische Filmschaffende wie Godard, Tanner, Klopfenstein oder Schocher meist kritischere Blicke auf die helvetische Landschaft abseits der Klischees. Thomas Blubacher präsentiert bei uns sein Buch «Drehort Schweiz», das diese unterschiedlichen Schweiz-Bilder in der Filmgeschichte dokumentiert.

Auch hierzulande tätig war der heuer verstorbene Jean-Louis Trintignant, dem wir eine Retrospektive widmen: Mit Michel Soutter hat er ebenso gedreht wie mit Alain Tanner. Seine subtile und schillernde Schauspielkunst würdigen wir mit 16 Filmen, und dabei sind auch die Filme, die er selbst inszeniert hat, zu entdecken.

Keineswegs fern liegt Winterthur, aber nicht jede:r kann sich die Zeit nehmen, dorthin zu schweifen, um die Internationalen Kurzfilmtage besuchen. Umso besser, dass nun Festivaldirektor John Canciani und Kurator Kyros Kikos im Filmpodium eine Auswahlschau der diesjährigen Ausgabe präsentieren.

Einer, der zwar viel reiste, aber stets auch seinen heimischen Mikrokosmos dokumentierte, war Jonas Mekas, der am 24.12.2022 100 Jahre alt geworden wäre. Am 4.12. lässt Sie das Filmpodium einen Tag lang in Mekas’ Welt eintauchen, einen Bilderstrudel, der Sie von 10.00 Uhr bis gegen Mitternacht mitreissen wird.

Und zum Schluss noch dies. Wenn Sie in den letzten Wochen bei uns im Kino waren, haben Sie es bestimmt gemerkt: Ende Sommer ist René Kiefer, unser langjähriger Leiter Kasse und Bar, in Rente gegangen, und wir danken ihm herzlich für seinen ebenso engagierten wie persönlichen Einsatz. Sein Amt übernommen hat Benjamin Ott, der zuvor im Houdini und im RiffRaff tätig war. Wir freuen uns über die Zusammenarbeit mit ihm und die Erfahrung und die Ideen, die er mitbringt.

Michel Bodmer

Editorial: Blickwechsel

Revenge von Coralie Fargeat (Frankreich, 2017)

Ein Hubschrauber landet mitten in der Wüste vor einer stylishen Luxusvilla. Poppige Farben. Aus dem Cockpit steigt Jen, Lolli im Mund, spärlich bekleidet. Lasziv stolziert sie durchs Bild. Die Kamera klebt an ihrem Hintern. Ein ziemlich billiges Girl, das ein romantisches Weekend mit seinem steinreichen, anderweitig verheirateten Freund geniessen will. Dumm ist sie wahrscheinlich auch noch. Schnell haben wir uns ein Bild gemacht, mit wem wir es hier zu tun haben.

Dann aber reisst Regisseurin Coralie Fargeat das Steuer herum: Jen mutiert in diesem atemlosen Rape-Revenge-Thriller zur Superwoman, die ihre Vergewaltiger gnadenlos durch die Wüste jagt. Wir fiebern mit und denken uns: Respekt! Im Visier der Kamera ist jetzt der gestählte, gequälte Oberköper ihres Beaus. Spielerisch und gekonnt demonstriert Fargeat in Revenge die Macht von Stereotypen, Blicken und Blickwechseln.

Women Make Horror! Unsere Anthologie des Frauenhorrorfilms bietet 16 weibliche, neue Blicke auf ein bisher männerdominiertes Genre.

Auch unsere anderen Programme und Specials drehen sich um die Fragen nach dem Blick und dem Blickwinkel. Douglas Sirk etwa, dem wir eine facettenreiche, vom Locarno Film Festival übernommene Retrospektive widmen, hält in seinen grossen, stilisierten Melodramen als deutscher Immigrant der US-Gesellschaft der Fünfzigerjahre einen Spiegel vor. Eine Einladung zur Identifikation und kritischen Distanz zugleich, mit der Sirk die Risse im American Way of Life enthüllt.

Den dokumentarischen Kontrapunkt dazu setzt unsere Ruth-Beckermann-Werkschau. Wie eine Flaneurin durch Raum und Zeit lässt sich die österreichische Filmemacherin auf ihren Reisen unvoreingenommen von den verschiedensten Begegnungen leiten und überraschen. Es ist ein lustvolles wie ehrliches Entdecken, an dem sie das Publikum teilhaben lässt: Sei es, dass sie sich mit Sissi auf die Suche nach dem Orient begibt, über eine papierene Brücke in die eigene Vergangenheit blickt oder, wie unlängst in Mutzenbacher, Männer auf die Couch holt, um sie mit Erotikliteratur und ihrem eigenen Begehren zu konfrontieren.

Ob Horrorfilm, Weepie oder dokumentarische Reise: Genau hinschauen, erneut hinschauen, anders hinschauen eröffnet neue Perspektiven und Erkenntnisse. Machen Sie sich also Ihr eigenes Bild von unserem Programm voll lustvoller Blickwechsel. Die erste Abendvorstellung findet übrigens neu um jeweils 18.30 Uhr statt, damit es mit dem Kino nach der Arbeit nicht so stressig ist.

Nicole Reinhard

Editorial: Birthdays by Numbers

THE COOK, THE THIEF, HIS WIFE AND HER LOVER von Peter Greenaway

In den Jahrzehnten meiner beruflichen Beschäftigung mit Film habe ich keinen Cineasten so lange und so eng begleitet wie Peter Greenaway. Nicht nur habe ich ihn ab 1987 mehrmals interviewt, ich habe auch diverse Kurzgeschichten, Drehbücher und Texte fürs Theater aus seiner Feder übersetzt und mich mit ihm darüber ausgetauscht. Umso mehr freut es mich, dem grossen Ironiker und Meister des postmodernen Kinos zu seinem 80. Geburtstag und als Auftakt zu meinem letzten Jahr beim Filmpodium eine Retrospektive ausrichten zu können. Greenaway wird auch zu uns kommen, um über seine zentralen künstlerischen Anliegen zu referieren und neues Material zu präsentieren. «Erst» 50 Jahre alt ist die Filmcooperative Zürich, die wie wenige andere Verleihfirmen das Arthouse-Kino der Schweiz geprägt und bereichert hat. Wir feiern die Filmcoopi mit über 30 Perlen aus ihrem Filmschatz. Zum Auftakt und als Vorpremiere präsentiert die Filmcoopi François Ozons Fassbinder-Hommage Peter von Kant – im Beisein dieses französischen Meisterregisseurs, den der Verleih wie viele andere Filmschaffende auch über Jahrzehnte treu begleitet hat.
Der dritte Geburtstag unseres Kino-Sommers ist der 65. von Spike Lee, dem wohl wichtigsten Exponenten des amerikanischen Black Cinema. Eine üppige Auswahl seiner Filme wird ergänzt mit Klassikern, die ihn inspiriert haben: Die Bandbreite reicht von Auseinandersetzungen mit Rassismus bis zu poppiger Blaxploitation. Dazu gibt es eine Podiumsdiskussion und einen VJAbend mit Kokurator Greg de Cuir Jr. Kein Wiegenfest, sondern schon eher eine Auferstehung feierte unlängst Kinuyo Tanaka. Lange die berühmteste Schauspielerin des japanischen Kinos, trat sie in den 50er-Jahren hinter die Kamera und drehte sechs wegweisende Filme, die das patriarchalische System ihrer Heimat aus weiblicher Warte beleuchteten und hinterfragten. Ihre frisch restaurierten Werke werden begleitet von Schlüsselfilmen, die Tanaka mit Ozu, Mizoguchi und Kinoshita gedreht hat. Unser Sommerprogramm ist dieses Jahr sogar zwei Wochen länger als sonst (was Sie am extradicken Programmheft erkennen sowie an der noch üppiger bestückten Website), da sich das ZFF entschlossen hat, ab diesem Sommer nicht mehr bei uns zu gastieren. Wir bedauern das Ende dieser Kooperation, die uns immer spannende Filme, eine fröhliche Besucher:innenschar und
eine Portion Glamour ins Haus gebracht hat. Wir geben uns umso mehr Mühe, mit dem hauseigenen Angebot für Abwechslung, Inspiration und etwas Spektakel zu sorgen – und zwar das ganze Jahr hindurch.

Michel Bodmer

Editorial: Wahlverwandtschaften und Filmfamilien

Only Lovers Left Alive von Jim Jarmusch

Film ist Teamarbeit. Film verbindet. Nicht selten wird daher aus einem Filmteam eine Filmfamilie – manchmal nur für die Dauer eines Projektes, manchmal für ein Leben. Unser Programm ist sprechender Beweis für diese vielfältigen Familienbande: Tilda Swinton, die am 31. Mai unser Kino zum Strahlen bringen wird, ist so ein Familienmensch: Als Derek Jarmans schöpferische Muse, enge Freundin und Nachlassbewahrerin hat sie den Künstler durch sein Leben und darüber hinaus begleitet. Wir präsentieren die schwindelerregende Schaffensvielfalt der Ikone Swinton, die sich mühelos und genderfluid zwischen Experiment und Mainstream bewegt und für wahrhaftiges Kino einsteht – vor und hinter der Kamera. Mit dem schottischen Filmemacher Mark Cousins etwa hat sie ein Wanderkino gegründet, das Filmkunst in die entlegenen Hügel der Highlands bringt. Und sie ist Erzählerin in seinen Dokumentarfilmen zur Geschichte des Kinos. Wir laden zu Cousins’ neustem Streich A Story of Film: The New Ge­neration und einer Begegnung mit ihm am 19. April

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Editorial: Pour vos beaux yeux!

Les yeux sans visage von Georges Franju

Zum ersten Mal darf ich Sie als Leiterin des Filmpodiums begrüssen. Was für eine Freude, mit dem engagierten Team dieses Kinos das filmische Herz Zürichs zu bespielen! Wir wollen für Sie ein lustvolles Programm mit Tiefgang gestalten, verspielt, aber mit Kanten, überraschend und anregend. Wir wollen neugierig alle Ecken der Filmgeschichte ausleuchten, das Damals mit dem Heute verbinden und nach Zeichen der Zukunft in den Filmen von heute suchen. Mit inspirierenden Gästen, herausfordernden Vorträgen und vergnüglichen Events verteidigen wir das Kino als lebendigen Diskursort und Treffpunkt.

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Editorial: Zwischen Goodbye & Welcome

The Single Standard von John S. Robertson

Corinne Siegrist-Oboussier, die Leiterin des Filmpodiums, ist am 30. November nach 16 Jahren in Pension gegangen und hat ihr Amt abgegeben. Ihre Nachfolgerin Nicole Reinhard, die bisherige Direktorin des Stadtkino Basel und Kodirektorin des Bildrausch-Filmfests, hat ihre neue Stelle am 1. Dezember übernommen. Solche Abgänge und Neuanfänge sind nicht nahtlos zu bewerkstelligen, und so kam es faktisch zu einem kurzen Interregnum.

Das heisst nun nicht, dass in Abwesenheit leitender Katzen die Mäuse getanzt hätten. Das treffendere Bild für das Filmpodium mit seinen langen Planungsfristen ist dasjenige eines schweren Tankers, der noch ein gutes Stück auf seinem Kurs weiterschippert, auch wenn die Kapitänin die Kajüte geräumt hat und ihre Nachfolgerin noch nicht am Ruder steht.

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Editorial: Goodbye & Welcome

Werner Herzog in Nomad: In the Footsteps of Bruce Chatwin

Das Filmpodium bewegt. Es ist unser liebstes Programmkino, weil es uns Wenigbekanntes oder gar Unbekanntes näherbringt und damit unseren Horizont erweitert, weil es zurückblickt und das Filmschaffen würdigt, und trotzdem am Puls der Zeit ist. Nun steht eine markante Veränderung an.

Die langjährige Leiterin des Filmpodiums, Corinne Siegrist-Oboussier, wird das Haus Ende November 2021 verlassen und in Pension gehen. Sie hat das Filmpodium 16 Jahre geleitet und es kontinuierlich weiterentwickelt, stets und mit Erfolg darauf bedacht, die hohe Qualität und die Relevanz des Programms beizubehalten. Dies in einem sich rasch wandelnden Umfeld, das die Kinos in noch nie dagewesener Weise herausfordert, ja in ihrer Existenz bedroht. Die Gesellschaft und damit die Konsumgewohnheiten der Zuschauenden haben sich verändert, die Zahl der Kinobesuchenden geht seit Jahren zurück. Die Corona-Pandemie hat diese Entwicklung zusätzlich beschleunigt.

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Editorial: Wir sind auch andere

Die langen hellen Tage von Nana Ekvtimischwili

Unsere aktuelle Palette an Filmen und Veranstaltungen bietet sich an, um wieder einmal darauf hinzuweisen, dass das Filmpodium-Team kaum je ganz allein und nur für bildungsbürgerliche helvetische Cinephile Programme kuratiert. Vielmehr ist ein grosser Teil der Filmreihen und Events, die wir präsentieren, nicht nur auf unserem Mist gewachsen; mindestens der Keim dazu wurde von anderen gelegt – zum Glück: Dank zahlreicher Partnerschaften und Kooperationen ist das Programm des Filmpodiums nicht nur vielfältiger, sondern auch Ausdruck einer Teilhabe diverser Kreise am Angebot dieses kommunalen Kinos der Stadt Zürich.

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Editorial: Impflich ausgegangen?


Alain Delon in Plein soleil (René Clément, FR/IT 1960)

Die Wiedereröffnung der Kinos im April hat nicht nur die Branche gefreut; unser Publikum ist ebenfalls mit Begeisterung und unerschütterlicher Treue zurückgekehrt – vielen Dank! Tatsächlich haben die endlich vorhandenen Impfstoffe und deren schnelle Anwendung zu einer Entspannung der Lage geführt, sodass hoffentlich keine weitere Welle der Pandemie zu Shutdowns führt und den sich aufrappelnden Kulturbetrieb wieder abwürgt.

Unser Sommerprogramm haben wir jedenfalls mit viel Optimismus und noch mehr Filmen ausgestattet. Neben über 30 kurzen und langen Werken von Jean-Luc Godard, die wir aus der Corona-Zwangspause gerettet haben, stehen fünf weitere Schwerpunkte an:

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Editorial: Programm-Plandemie

The Man Who Wasn’t There (Joel Coen, Ethan Coen, USA/GB 2001)

Im Dezember 2020 dachten wir noch, dass die zweite Welle der Covid-19- Chose bald verebbe und uns wieder ein regulärer Kinobetrieb erlaubt sei. Dank Virus-Mutanten und Corona-Ignoranten sind die Zahlen dann jedoch wieder hochgeschnellt, und alles hat sich verzögert.

Wie andere, die kulturelle und sonstige Veranstaltungen planen, haben auch wir immer neue Szenarien entworfen, um den ständig wechselnden Zeithorizonten für die Wiedereröffnung gerecht zu werden, die sich diffus abzuzeichnen schienen. Zwei Prinzipien leiteten uns dabei: inhaltlich möglichst wenig von dem Programm der Monate Dezember bis Februar, das bereits rechtlich abgeklärt und bezahlt war, zu opfern und möglichst im Mai/Juni zu einer regulären Programmstruktur zurückzukehren. Der Zeitraum für die «Pufferprogrammierung» bis Mitte Mai schwand aber zusehends, sodass wir gezwungen waren, das Stummfilmfestival auf Anfang 2022 zu verschieben und die verbliebenen Godard-Filme in den Sommer zu verpflanzen. «Editorial: Programm-Plandemie» weiterlesen