Zur Erinnerung an Moufida Tlatli

Uns hat die traurige Nachricht erreicht, dass Moufida Tlatli, deren Film La saison des hommes wir am 5. Arab Film Festival 2020 gezeigt haben, im Alter von 73 Jahren verstorben ist.

Moufida Tlatli als Jurymitglied der 54. Filmfestspiele Cannes ©Frank Micelotta/Getty Images.

Michel Bodmer, stellvertretender Leiter des Filmpodiums, und Frédéric Maire, Direktor der Cinémathèque suisse, haben 2000 in Cannes anlässlich der Premiere von La saison des hommes ein Interview mit ihr geführt, das wir Ihnen gerne auf unserem Blog zur Verfügung stellen.

Als im Film der vom Vater ersehnte Sohn zur Welt kommt, ist er autistisch. Damit ist er kein Wunschkind mehr.

Moufida Tlatli: In der Tat. Ein krankes Kind hat immer verschiedene Facetten, aber alle stören sich daran. Egal, ob man positiv oder negativ dazu eingestellt ist – es besteht ein Unbehagen. Der Vater empfand schon Unbehagen über seine Frau, die sich auflehnte, überraschend sein Leben auf den Kopf stellte. Sie hat ihn reich gemacht, aber er verlässt sie auf fast schon feige Weise. Nun kommt dieser so ersehnte Sohn hinzu. Die Mädchen haben so unter dem Wunsch des Vaters – und der Schwiegermutter – nach einem Sohn gelitten, dass das Kind im Mutterschoss nicht gesund wachsen konnte, weil es von all diesen Frustrationen der Frauen gestört wurde. Aichas Bauch wollte ihn nicht. Diese Ablehnung war fatal für Aziz. Er kam zur Welt als ein Kind, das man nur ablehnen kann. Er bleibt eine offene Wunde in der Familie, eine explodierte Bombe. «Ihr habt diesen Sohn gewollt – voilà. Und was machen wir nun?» Man sieht, was dann gemacht wird: Die Frauen kümmern sich um ihn, wie um alle behinderten Kinder. Es ist immer die Mutter, die sich eines solchen Kindes annimmt; die Väter lehnen es meist ab als Schande: Wie konnten sie ein solches Kind zeugen? Die Mutter dagegen zieht es schon fast vor. Ich habe eine Szene schneiden müssen, weil sie leider nicht gut herausgekommen war, wo Emna vor ihrer Abreise mit der Mutter streitet; alle Frauen umringen sie, um sie am Gehen zu hindern. Aicha sagt: Schämst du dich nicht, so zu deiner Mutter zu sprechen? Und Emna sagt: Welche Mutter? Du warst mir nie eine Mutter, du warst nur Aziz› Mutter. Das war sehr hart für die Mutter. Nach Aziz› Geburt hatte sie sich nur noch um ihn gekümmert.

Sie haben gesagt, dass dieses Kind aus Fantasien hervorgeht, die sich Aicha in Bezug auf den Lehrer macht, aber das sind Fantasien, die sich nicht entfalten können, sondern frustriert werden. Also hat ihr Mann Recht, wenn er sagt, sie habe den Sohn nicht gewollt.

Moufida Tlatli: Durchaus. Das ist eine Problematik, die sich auf Djerba immer wieder gestellt hat, auf ebendieser Insel; all die Geschichten, die ich erzähle, sind wahre, dokumentierte Erlebnisse der Leute dort. Ich hatte Mühe, in dieses Frauenuniversum einzudringen, aber ich hatte das Glück, einer Sozialarbeiterin zu begegnen, die sie gut kannte und mich einführte. Man hängt Djerba gerne ein Sprichwort an, wonach die Frauen schwanger werden, wenn die Männer da sind, und schwanger werden, wenn die Männer weg sind. Wenn dann der Vater staunt, weil eine Geburt unerwartet eintritt, sagt die Mutter: «Das Kind ist in meinem Schoss eingeschlafen.» Das wollte ich im Film nicht bringen; das war mir zu einfach. Aber die Frauen müssen sich schon mit dieser Trennung arrangieren. Es sei denn, sie werden von einer Schwiegermutter beobachtet wie derjenigen im Film. Doch selbst Aicha, die sowas nicht macht, macht doch etwas: Dass sie in das Zimmer des Lehrers geht, ist für sie gewaltig.

Sie sagen, dass man Ihnen wieder vorwerfen werde, Sie würden sich mit der Vergangenheit beschäftigen. Liegt das daran, dass Djerba etwas traditioneller ist als der Rest Tunesiens?

Moufida Tlatli: Ja. Als junge Tunesierinnen und Tunesier «Les silences du palais» sahen, sagten sie: «Das ist schön, aber ein Stück Geschichte. Warum sprechen Sie nicht von heute, von uns, unseren Schwierigkeiten, in einer arabischen, muslimischen Gesellschaft jung zu sein?» Da spürte ich, dass das junge Publikum das von mir erwarten würde. Nun habe ich ihren Wünschen wieder nicht ganz entsprochen. Wenn sie etwas reifer sind, können sie diesen Film vielleicht schätzen. Wenn nicht, liege ich tatsächlich daneben. Ich sage ihnen aber ehrlich: Sie sollten selber diese Filme machen, als Junge, die unter Jungen leben, das verstehen und von innen heraus empfinden, und darüber Filme machen können. Ich spüre die Jugend nur als Mutter, indem ich einen halbwüchsigen Sohn und eine Tochter habe. Und davon kann ich sprechen, aber was die Probleme der Jungen selbst angeht, so besteht da nach wie vor ein gewisses Tabu; zwischen Mutter und Tochter sagt man sich nicht alles, und die Mutter weiss nicht über alles Bescheid.

Die Übermutter, die hammah, ist furchterregend, indem sie die Macht besässe, den andern neue Sehweisen zu eröffnen, wie Aicha dies tut, aber sie selbst tut das nicht. Ist das typisch für das heutige Tunesien, dass die Frau die Schlüssel zu ihrer Freiheit und Unabhängigkeit eigentlich in der Hand hat? Und werden diese auch vermehrt genutzt?

Moufida Tlatli: Ja, sie benutzt die Schlüssel allmählich, aber es gibt Schattenbereiche. Es ist schwierig, ein Tabu zu brechen, das seit 14 Jahrhunderten besteht. Wenn Sie in Tunis landen, sehen Sie überall neue Schulen und Universitäten, lauter Frauen in aussergewöhnlicher beruflicher Stellung – Ärztinnen, Professorinnen, Pilotinnen, Unternehmerinnen – die bestens zurechtkommen, sich europäisch kleiden, in Nachtklubs und Restaurants gehen, ihre Männer begleiten. Ein schönes Bild der tunesischen Frau, das ich hoch achte. Aber es gibt immer, in jeder Generation, Schattenbereiche, so dass man weiterkämpfen muss. Man hat nie alles auf sicher erreicht. Für mich betreffen die Schattenbereiche die Tabus, das Unaussprechliche: die Sexualität der arabischen Frau. Darüber wird in unserer Gesellschaft noch nicht wirklich gesprochen. Das ist der kleine Schritt, den ich über «Les silences du palais» hinaus gegangen bin: Ich habe den Körper der Frau etwas genauer erforscht. Für mich geht es dabei um Respekt: Die Frau respektiert den Körper des Mannes; der Mann muss den Körper der Frau respektieren, als ein Ganzes, das eigene Bedürfnisse hat, das geben und nehmen muss, nach eigenem Gutdünken, nicht nur den Wünschen des Mannes gemäss. Das darf nicht eine Einbahnstrasse sein. 

Für Sie gibt es offenbar einen Unterschied zwischen liberalen Gesetzen und traditionellen Sitten in Tunesien, so dass gewisse Entwicklungen in den Köpfen hinterherhinken.

Moufida Tlatli: Ja, die Verhältnisse hinken den Gesetzen hinterher; die Gesetze sind progressiver als die Mentalitäten. Es besteht da auch eine Verzögerung zwischen Männern und Frauen. Die Frau macht schnelle Fortschritte, weil dies in ihrem Interesse ist; der Mann bremst immerzu. In Tunesien hat sich ein Mittelstand entwickelt, der nur dank der finanziellen Unterstützung von Frau und Mann überleben konnte; das sind Doppelverdiener. Das hat zwangsläufig auch zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Frau geführt. Und das lässt sich nicht mehr umkehren; die Frau kehrt nicht mehr an den Herd zurück, sondern sie ist berufstätig. Ich erweise diesen Frauen meine Hochachtung, denn sie haben sich nie beschwert. Sie waren so froh über ihre Berufstätigkeit, dass sie die doppelte Arbeit auf sich genommen haben: im Büro und abends im Hause. Und am Sonntag ruhten sie sich nicht aus, sondern erledigten das Grossreinemachen. Dazu zählen etwa meine Schwägerinnen. Und ihre Männer lernen dazu, sie helfen allmählich im Haushalt und mit den Kindern. Aus solchen Alltagsdetails erfährt man viel darüber, was im Haus abgeht. Es geht nicht nur um die Gesetze. Ich liebe es, darüber zu reden, was hinter verschlossenen Türen passiert. Da sehe ich gern zu, aber es tut auch weh, denn da finde ich immer auch ein Stück von mir, meiner Geschichte, meiner Familie. Und das hilft mir, Dinge zu verstehen, die bei mir und meiner Familie nicht ganz klar sind.

Sie sind ursprünglich Cutterin. Die Struktur des Films schneidet hin und her zwischen damals und heute und vermengt die Zeitebenen. War das Teil Ihres dramaturgischen Konzepts oder eher die Lust der Cutterin am Umstellen von Blöcken?

Moufida Tlatli: Weder noch. Ich hatte Angst vor dem zweiten Film, dass man sagen würde, es sei nochmals wie «Les silences du palais»: damals und heute, die Frauen, die Armen und so weiter. Aber meine Leser, sowohl die Produzenten als auch die tunesische Filmförderung und meine Freunde, sahen es nicht als Problem an, sondern als Vertiefung des ersten Films. Aber ich kann nun mal nicht anders; ich bin aufgrund meiner eigenen Familiensituation emotionell im Alter von 12 Jahren stehen geblieben, und diese Emotion ist meine Triebkraft. Ich versuche immer herauszufinden, was wir geworden sind, aufgrund dessen, was wir einmal waren. Das ist der Ansatz, der mich im Kino interessiert. Und die Familie ist ja immer auch ein Symbol für die Gesellschaft. Warum bin ich etwa die Schwester von jemandem, der weniger Glück gehabt hat? Da empfinde ich starke Schuldgefühle und destabilisiere mich selber, um jenem näher zu kommen. Diese Nähe ist verstörend und schwer lebbar. Und ich schreibe solche Figuren, um selbst Lebenshilfe daraus zu ziehen. Deshalb bin ich auch in ein ähnliches Muster zurückgefallen: Ich habe gewisse Probleme noch nicht überwunden. Ich sollte endlich erwachsen werden (lacht).

Michel Bodmer, Frédéric Maire (Cannes 2000)

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