Schweizer Filmförderung: Connect to (digital) reality

Am Locarno Festival fanden verschiedene Gespräche und Workshops statt, bei denen der Stand des Schweizer Films und seine mögliche Verbesserung diskutiert wurden. Der «Frame»-Artikel wurde von der Branche als Anstoß für die Debatte, aber auch als Stein des Anstoßes angesehen. Als interessierter Filmfachmann – nicht als Vertreter einer städtischen Förderinstanz – war Michel Bodmer, der stellvertretende Leiter des Filmpodiums Zürich, eingeladen, am ersten Workshop der Initiative «Connect to Reality» teilzunehmen. Hier können Sie das offizielle Schlusscommuniqué der Veranstaltung sowie einige Nachgedanken von Michel Bodmer lesen.

Bildnachweis: pardo.ch
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Connect to Reality

Neue Strategien für die Schweizer Filmindustrie: die Filmschaffenden versammeln sich, um den Verleih, die Auswertung und die Promotion des Schweizer Films neu zu denken.  

Locarno, 5. August 2017 – Mehr als sechzig Personen aus der Filmbranche haben sich am Samstag im Rahmen der Initiative «Connect to Reality» getroffen. «Connect to Reality» ist eine Diskussionsplattform, die von den Filmfestivals Locarno, Zürich und Genf lanciert wurde. Ein Think Tank, der die kritische Auseinandersetzung mit den Herausforderungen in der Entwicklung, der Produktion und des Vertriebes der Schweizer Filme fördern soll.

Rund 60 Persönlichkeiten aus der Schweizer Filmbranche sowie prominente Gäste aus dem europäischen Ausland haben im Rahmen des Locarno Festival am Samstag in sechs verschiedenen Arbeitsgruppen neue Strategien erarbeitet, die dem Schweizer Film in den Kinos im In- und Ausland sowie an den internationalen Filmfestivals zu mehr Erfolg zu verhelfen sollen. Die Teilnehmenden aus zehn europäischen Ländern waren sich einig, dass angesichts des konstant tiefen Marktanteils des Schweizer Films von rund 5% im Inland und nur wenigen Kinoerfolgen im Ausland dringend etwas geschehen müsse. Konkret haben die verschiedenen Arbeitsgruppen mehrere Massnahmen vorgeschlagen sowie auf wunde Punkte hingewiesen.

«Connect to Reality» wurde mit Grundsatzreferaten eröffnet, es sprachen Edouard Waintrop, der Direktor der renommierten Sektion Quinzaine des réalisateurs am Filmfestival Cannes, sowie Klaus Rasmussen von der deutschen Firma Global Screen, einem der grössten Film-Weltvertriebe in Europa. Zudem präsentierte Christian Jungen, Kulturchef der NZZ am Sonntag, seine Vision für den Erfolg des Schweizer Films im In- und Ausland. Die Anwesenden haben sich mit den vorgetragenen Thesen engagiert auseinandergesetzt und festgehalten, wie sich ihre Praktiken davon unterscheiden und welche Ziele sie bisher erreicht haben. 

In den verschiedenen Arbeitsgruppen vertreten waren unter vielen andern etwa die Festivaldirektorinnen und -direktoren von Solothurn, Zürich, Genf, Neuchâtel, Nyon, Fribourg, Hamburg sowie europäische Verleiher, Produzenten, und Vertreter verschiedener Institutionen und Finanzfonds. Im Weiteren waren auch World Sales wie The Match Factory, Doc&Film, Loco, Cinephil und Beta anwesend. In jeder Arbeitsgruppe wurde eine spezifische Fragestellung eingehend diskutiert. Basierend auf diesen Diskussionen wurden folgende Feststellungen und Vorschläge gemacht:

  • Generell wurde die grosse Bedeutung der Filmfestivals betont. Ohne eine prominente Festivalteilnahme sei eine gute Kinoauswertung heute nur schwer möglich; das gelte sowohl im In- wie im Ausland. Zudem solle die Flexibilität der Auswertungskanäle gesteigert werden, was den Filmschaffenden erlauben würde, ihre Vertriebsstrategie in den Sälen und auf digitalen Plattformen erfolgreicher zu koordinieren.
     
  • Einig waren sich die Teilnehmenden, dass mehr Zeit und Geld in die Entwicklung und in das Drehbuch der Schweizer Filmprojekte gesteckt werden müsse, um die Qualität des Drehbuchs zu garantieren. Es wird zudem empfohlen, frühzeitig zu entscheiden, welches Zielpublikum angesprochen werden soll und welche Ziele für die Verbreitung verfolgt werden. 
     
  • Ein Erfolgsrezept gebe es nicht, aber jeder Film brauche einen Businessplan. Als unabdingbare Voraussetzungen, um die Chancen auf eine erfolgreiche Verbreitung zu erhöhen, wurden die Qualität des Drehbuchs festgehalten, sowie die Stärke der Schauspielerinnen und Schauspieler, das Renommee der Regie, der Wille, mit vielversprechenden Talenten zu arbeiten, und eine prominente Festivalteilnahme. 
     
  • Mehrere Teilnehmende kritisierten, dass das Schweizer Filmfördersystem nicht den heutigen Realitäten angepasst sei. Das Bundesamt für Kultur wurde aufgefordert, wie in andern Ländern Statistiken zum Kinopublikum zu erheben, damit man beim Filmstart entsprechende Strategien erarbeiten könne. Ein Vorschlag betrifft zudem die Durchführung von Testscreenings, um die Reaktionen des Publikums antizipieren zu können. 
     
  • Zudem wurde angemerkt, dass man sich eine neue Strategie überlegen muss, um vermehrt ein jüngeres Publikum für die Kinokultur zu begeistern. In diesem Zusammenhang wurde festgestellt, dass es in Europa im Allgemeinen an Nachwuchs im Bereich des Filmverleihs mangelt, was wiederum dazu führt, dass das junge Publikum bei den Marktteilnehmern unterrepräsentiert ist. 
     
  • Es wurde ebenfalls vorgeschlagen, ein Rebranding des Schweizer Films anzustreben, da er beim Kinopublikum nicht einen besonders guten Ruf zu haben scheint – im Gegensatz zur Situation in Deutschland und in Frankreich. Dabei gilt es auf die Komplexität der Schweizer Kinolandschaft mit den drei Landessprachen Rücksicht zu nehmen. Auch die Tatsache, dass die Schweiz vom europäischen Fördersystem MEDIA ausgeschlossen sei, bedeute einen Nachteil für den Schweizer Film. 
     
  • Viel Positives gab es hingegen vom Schweizer Dokumentarfilm zu berichten. Im Gegensatz zum Spielfilm funktioniere hier das Branding. Schweizer Dokumentarfilme könnten international nicht nur mithalten, sondern herausragen. Fast die Hälfte der Kinoeintritte für Schweizer Filme würden für Dokumentarfilme gekauft.

Die Initiative «Connect to Reality» wird nach ihrem erfolgreichen Start am Locarno Festival am 2. Oktober fortgesetzt, am Zurich Film Festival, und am 7. November am Geneva International Film Festival. In Zürich werden Fragen der Filmproduktion im Vordergrund stehen, in Genf stehen die neuen Herausforderungen der Kreation zur Diskussion. Erklärtes gemeinsames Ziel der drei Treffen ist die Verständigung über notwendige Reformen, welche die Präsenz des Schweizer Films im Kino im In- und Ausland sowie an den internationalen Festivals erheblich und dauerhaft steigern sollen.

«Connect to Reality» Locarno wird unterstützt durch die MEDIA Ersatzmassnahmen des Bundesamtes für Kultur (BAK) und gefördert von der SSA (Société Suisse des Auteurs) und der Genossenschaft Suissimage.

Bildnachweis: pardo.ch
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Neben den oben im Communiqué erwähnten Punkten und Schlüssen wurden bei den Diskussionen in Locarno noch ein paar weitere bedenkenswerte Fakten und Meinungen angesprochen:

Die Kinoauswertung gilt für viele Filmschaffende nach wie vor als höchstes Ziel. Allerdings kommen zu viele (Schweizer) Filme ins Kino und erreichen dort ihr Publikum nicht. Nicolas Wadimoff, Produzent und Regisseur, meint daher, dass bei Filmen, die ein jüngeres Publikum ansprechen, ein paar wenige «Eventvorführungen» mit Live-Komponenten das höchste der Gefühle seien, danach solle der Film direkt ins Video on Demand (VoD) gehen. Anderseits gab an der vorgängigen Veranstaltung «StepIn» Bobby Allen von MUBI zu bedenken, dass vorläufig nur Filme im Kino von der Kritik besprochen werden, was zu ihrer Bekanntheit und ihrer Reputation beiträgt, sodass die VoD-Auswertung letztlich von einer vorangehenden Kinoauswertung profitiert. MUBI ist deswegen nun selber ins Kinoverleihgeschäft eingestiegen und bringt gewisse Titel selber in die Säle, bevor sie ins VoD-Angebot aufgenommen werden; die gegenseitige Bewerbung funktioniere. Tim League von der Boutique-Kinokette Alamo Drafthouse meint zudem, dass die meisten großen Online-Plattformen bald ins Kinoverleihgeschäft einsteigen, um ihren Brand zu erweitern und um Kritiken und Mundpropaganda für ihre Filmproduktionen zu erzeugen; Amazons The Big Sick etwa profitierte davon und spielte an der US-Kinokasse immerhin schon über 30 Millionen Dollar ein. Netflix’ Beharren auf Exklusivität erscheint manchen als unsinnig, da Filme sowohl an Festivals als auch im Kino an Reputation gewinnen (Bong Joon-hos Okja, eine Netflix-Produktion, wird nach seiner umstrittenen Vorführung in Cannes nicht im Kino ausgewertet).

Was jedoch die Förderung des Schweizer Films angeht, sind sich die meisten Player einig, dass die Privilegierung des Kinos heute hinfällig ist und dass es künftig um die Förderung audiovisueller Werke gehen soll, deren genaue Form (Kurzfilm, Langfilm, Serie, Game usw.), Zielpublikum und Auswertungsvektoren im Laufe der Stoffentwicklung zu bestimmen sind. Einige Pferdefüße müssten bei dahingehenden Reformen der Schweizer Filmförderung aus dem Weg geräumt werden: So sind einige Förderorgane Stiftungen, deren Zweck statutarisch ausdrücklich der Förderung des Kinofilms gilt; außerdem sind in der Schweizer Bundespolitik die zuständigen Instanzen für Film und für die elektronischen Medien nicht im selben Departement, geschweige denn im selben Amt, und auch gesetzlich lassen sich die heutzutage fließenden Grenzen zwischen den Medien hierzulande nicht ohne weiteres abbilden und regeln.

In Locarno wurde immer wieder von Netflix und anderen großen Online-Plattformen als zukunftsträchtigen Anbietern für Schweizer Filme abseits des Kinos gesprochen. Eine nationale Proforma-Plattform (Wadimoff: «une plate-forme pitié») für Schweizer Filme will offenbar niemand, angesichts des geringen Zuspruchs bei artfilm.ch – auch wenn das «nationale Filmerbe» rapide wächst (jeder Film, der älter als drei Jahre ist, gehört faktisch dazu). Wie aber neulich bekannt wurde, wird Disney eine eigene Plattform gründen und seine Filme (einschließlich der Marvel-Franchises) von Netflix abziehen, was dieser Plattform rund einen Drittel des Traffics wegnehmen dürfte. Ob die Zahl der Netflix-Abos entsprechend zurückgeht, wird sich weisen. Es wäre jedoch blauäugig anzunehmen, dass selbst globale digitale Anbieter nur wachsen und felsenfest zukunftsträchtig sind; Netflix schreibt zudem nach wie vor tiefrote Zahlen. Dass manche dieser Plattformen bisher keine Urheberrechte abgelten, ist manchen hiesigen Filmschaffenden ebenfalls ein Dorn im Auge. Bei einer vom Profil her passenden kuratierten Plattform wie MUBI wiederum kommen pro Monat nur 30 Titel ins Programm, und davon werden die wenigsten Schweizer Filme sein. Auch die digitalen Bäume wachsen nicht in den Himmel.

Die Idee eines «Schweizer Films» wurde in Locarno übrigens wiederholt in Zweifel gezogen; zu unterschiedlich seien die Kulturen und zu groß das gegenseitige Desinteresse. (Édouard Waintrop, Chef der Cinémas du Grütli in Genf und Direktor der Quinzaine des réalisateurs in Cannes, wies darauf hin, dass schon Genf und Lausanne einander ignorierten; die Deutschschweiz sei in der Romandie in Sachen Film gar kein Thema.) Im Gegensatz zum «Frame»-Vorschlag eines nationalen Filminstituts wird darum eher eine pragmatische Entwicklung in Richtung verstärkte (sprach)regionale Förderung beobachtet und befürwortet; die Filme selbst sollten sich durch ein hohes Qualitätsniveau und Einzigartigkeit auszeichnen, dann hätten sie Chancen, auch außerhalb der Schweiz gesehen zu werden, insbesondere in den gleichsprachigen Nachbarländern.

Michel Bodmer

2 Gedanken zu „Schweizer Filmförderung: Connect to (digital) reality

  1. Das Filmpodium bloggt teilt (was fuer eine alberne Unsitte. Frueher teilte hoechstens St. Marin seinen Mantel oder man teilte die Meinung von jemandem. Jezt «teilt» man auch «posts» und das nur weil niemand das Wort «share» besser zu uebersetzen weiss) und twittert heisst es. Aber eigentlich bloggt teilt und twittert nur Bodmer und kaum jemand hoert zu.
    Es kommt keine Diskussion in Gang, was ja wohl die – loebliche- Absicht hinter dieser Initiative war, wie es auch kaum – trotz Bar – Kommunikation zwischen den Besuchern des Filmpodiums gibt. Im vergangenen Jahr war ich 75 mal im Filmpodium, gesprochen mit anderen Besuchern habe ich ungefaehr 2 Mal. Zugegeben ich bin etwas schuechtern aber ich wuerde mir mehr Komunikation wuenschen. Die Frage ist, wie man das in Gang bringen kann. Auf dem Locarno Festival war das einfacher und obwohl ich mich da hauefig bei der Retrospektive aufhalte, gab es da auch viele junge Filmbesucher. Im Filmpodium habe ich, obwohl ich auch schon 62 bin manchmal den Eindruck, zu den juengeren Zuschauern zu gehoeren.

    1. Lieber Herr Dr. Loewenich,

      danke für offensichtlich großes Interesse am Filmpodium-Programm und für Ihren Kommentar, der selbst das von Ihnen bemängelte Schweigen im digitalen Walde bricht.

      Das Filmpodium wird online keineswegs nur von mir vertreten bzw. betreut; unsere Assistentin Laura Walde ist für den Löwenanteil an Posts und Tweets etc. verantwortlich und teilt (das geht auf Deutsch auch) ihr großes Wissen über die aktuelle Film- und Kinoszene mit unserem Publikum.
      Was den Mangel an Rückmeldungen und Diskussionsbeiträgen angeht, so wünsche ich mir mit Ihnen, dass unser Blog sich allmählich zu einer Plattform für Zweiwegkommunikation mausert und die Reaktionen der Leserschaft sich nicht auf bloße Likes oder mündliche Kommentare bei Zufallsbegegnungen beschränken. Gelesen werden die Beiträge ja durchaus, es gibt nur kein erkennbares Echo an Ort und Stelle.

      Tatsache ist aber nun mal, dass wir Schweizer als alpines Volk grundsätzlich eher mit unserer Meinung hinter dem Berg halten, jedenfalls die reiferen Generationen, die das Filmpodium besuchen. Ich kann nur hoffen, dass die Digital Natives mit der Zeit Interesse an unseren Angeboten entwickeln und online ihre Meinung kundtun, und/oder dass die Silver Surfers in unserem Publikum ihre Scheu überwinden und in die Tasten hauen – oder wenigstens auf ein Glas an unserer Kino-Bar verweilen und im Real Life diskutieren.

      Freundliche Grüße

      Michel Bodmer

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