Jason Mekas vs. Jonas Bourne und meine Grossmutter

Jonas-Mekas

Meine Grossmutter Frieda Henggeler-Scherer drehte in den 20er und 30er Jahren 16-mm-Filme. Da sie in Fernost lebte und später auch Anlässe wie die Landesausstellung und die Olympischen Spiele in St. Moritz besuchte usw., ist das Material von einigem Interesse. Formal allerdings ist es nichts Besonderes. Da sie «point-and-shoot»-mässig drehte und viele Einstellungen blosse Sekundenbruchteile umfassen, sprachen wir, als wir das digitalisierte Material sichteten, daher despektierlich von einem «animierten Fotoalbum», ohne zu ahnen, dass unsere Grossmutter eigentlich Avantgardistin gewesen war.

Aufgegangen ist mir das gestern anhand der Worte von Jonas Mekas, der hier in Locarno seinen Film Walden einführte: Das sei kein Experimentalfilm, sondern nur ein Zusammenschnitt seiner Home Movies; der Begriff Experimentalfilm sei von Feinden des Kinos geschaffen worden, sprach der greise Ehrengast. Nun, Mekas geht noch einen Schritt (oder zwei, drei) weiter als meine Grossmutter, indem er alles Erlebte und Gefilmte («I make home movies, therefore I live; I live, therefore I make home movies», sagt er einmal in Walden) durch denselben Wolf dreht. Wackelig und oft unscharf gefilmte Aufnahmen werden im Nachhinein auf dem Schneidetisch zu kürzesten Einstellungen verhackstückt und teils übereinanderkopiert, egal ob es sich um eine Winterstimmung im Central Park, ein Essen bei Freunden, kleine Kinder oder aufblitzende Promis wie Andy Warhol, Allen Ginsberg, Barbet Schroeder oder Velvet Underground handelt. Demokratisch-gleichförmig verwurstet, werden alle diese Szenerien und Menschen faktisch sinnentleert, denn die Fragmente können höchstens dem Zeitzeugen Mekas selbst als Gedächtnisstütze dienen; Dialoge gibt es kaum, nur Zwischentitel, die den Strudel etwas strukturieren, damit der außenstehende Zuschauer lesen kann, was er gleich – nicht wirklich – zu sehen bekommt. Freilich ergibt das zwischendurch kinematographisch originelle und gar poetische Sequenzen, aber – call me old-fashioned – da verdrängt die Form den an sich interessanten Inhalt doch ganz gehörig.

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Jonas Mekas im Gespräch mit Douglas Gordon in Locarno

Ein Anfänger in Sachen Schnittkadenz im Vergleich zu Mekas ist da Paul Greengrass, der in Jason Bourne den fast schon grotesk aufgemuskelten Matt Damon als Titelhelden einmal mehr auf die Suche nach sich selbst schickt. Auch hier gilt aber: Stress statt Spannung. Virtuose Schnittsequenzen täuschen über einen eklatanten Mangel an Inhalt und Charakterisierung hinweg, und die Anteilnahme an Figuren und Geschehen schwindet zusehends.

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Matt Damon in «Jason Bourne»

Als eine Art Gegengift dazu erscheint die ebenfalls in Locarno gezeigte, sehr sorgfältig restaurierte und kaum spürbar digitalisierte Geschichte der Nacht von Clemens Klopfenstein. Auch hier regiert die Form: Die Bolex-Kamera mit Handaufzug produzierte 20-sekündige Einstellungen der nächtlichen Städte, die Klopfenstein in ganz Europa besuchte. Angeregt von den wenigen Straßenszenen im klassischen Film noir interessierte er sich für diese dunklen Kulissen, in denen er sich alle möglichen Dramen vorstellte. Auch bei Klopfenstein gibt es keine Figuren, keinen Plot, aber immerhin Zeit, damit man sich etwas ausmalen kann.

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«Geschichte der Nacht», Clemens Klopfenstein

von Michel Bodmer

Ein Gedanke zu „Jason Mekas vs. Jonas Bourne und meine Grossmutter

  1. Sehr schön, die Assoziation von der filmenden Grossmutter zum Experimentalfilm! Er entlarvt die relative Beliebigkeit des Begriffs, der sich praktisch auf alles anwenden lässt, was noch mit Film zu tun hat.
    Gibt es Regeln, die dem Experimentalfilm zu Grunde liegen und ihn damit definieren? Nein – das widerspräche der Sache an sich: «Unter Experimental- oder auch Avantgardefilmen versteht man Filme, die in ihren Motiven und in ihrer Inszenierung abseits der Konventionen des Mediums und der Sehgewohnheiten des Publikums auf avantgardistische Weise neue Ausdrucksmöglichkeiten erforschen.» (Filmlexikon Wiki der Universität Wien)
    Es herrscht «Narrenfreiheit» – und das ist auch gut so. Aufhören tut das allerdings, wenn die verwackelten Ferienfilme der Verwandtschaft plötzlich Kultstatus erreichen 😉

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